Freitag, 10. September 2010

Scarf-face

Am letzten Wochenende habe ich mit L. Hamburgs infrastrukturelles Armutszeugnis, die Hafen City, besucht. Bei einem Kaffee unter freiem Himmel genossen wir den Blick auf die Gummistiefel-Pilger der Elbphilharmonie-Bauruine und ich fragte mich einmal mehr, weshalb Menschen sich freiwillig mit quietschgelben Kunststoff-Tretern erniedrigen, nur um eine schnöde Baustelle zu besichtigen. Dann fielen mir wieder Crocs ein und ich wurde leicht depressiv. Doch die Sonne schien, ostdeutsche Touristen erheiterten mich mit ihrem Akzent und meine Stimmung hellte sich schnell wieder auf - bis ER das Café betrat.

"Er" war ein Vertreter der Gattung Millenium-Holländer. Jeder meiner geneigten Leser, der in den frühen 2000er-Jahren Kontakt zu einem männlichen holländischen Mitbürger zwischen 13 und 30 Jahren hatte, kennt die charakteristischen Merkmale dieses Typs. Dazu gehören ein körperbetontenes, hässliches Hemd (gern gemustert oder strukturell fragwürdig), aus der Hose hängend; kinnlange, glatte blonde Haare à la Florian Fischer - dem Manager und Bettgespielen von Sarah Connor - und, das wichtigste Accessoire: eine sportliche (also hässliche) Sonnenbrille, die allerdings nicht die Augen vor UV-Strahlung schützt, sondern ausschließlich als Haarreif dient.

Für gewöhnlich sehe ich über derlei Geschmacklosigkeiten hinweg und widme ihnen keine weiteren Worte. Doch am Hals dieses Mannes befand sich das entscheidende Stück Stoff, welches in mir den Wunsch weckte, auf der benachbarten Baustelle einige Werkzeuge zu entwenden und neue Foltermethoden zu entwickeln. Er trug einen Sommerschal.


Man möge mich nicht falsch verstehen, ich spreche nicht von der Unart, sich im Sommer in dicke Schals zu wickeln und womöglich noch eine, dem Aussehen nach selbstgehäkelte, unförmige Wollmütze zu tragen, um die coole Lässigkeit weiter zu verkörpern, die schon im Winter keiner verstanden hat. Nein, ich meine diese hauchdünnen, im Farbton gern zwischen nikotinvergilbt und hotelbettmatratzenverfärbt liegenden Großmutter-Gardinen, welche der geschmacklose Mann von Welt sich entweder kunstvoll auf die Schultern drapiert, oder mit einer Schlinge um den Hals legt, um die Tatsache zu verdecken, dass in seinem zu weit aufgeknöpften Hemdkragen kein einziges Brusthaar wächst. Um seine Hässlichkeit zu unterstreichen, bedient der Sommerschal sich einer verknitterten Optik, die wirkt, als hätte er jahrelang in dem Spalt zwischen Kleiderschrank und Wand gelegen.

Der Sommerschal hat absolut keinen praktischen Nutzen, denn eine wärmende Funktion spreche ich diesem beinahe durchsichtigen Nichts ab. Natürlich bin ich der Letzte, der behaupten würde, ein Kleidungsstück müsse immer auch nützlich sein. Wer meine Garderobe kennt, weiß, dass ich eher die Gegenansicht vertrete und meine Hemden, Hosen und Anzüge nicht aus Notwendigkeit, sondern schlicht aus Genuss trage. Doch der Sommerschal ist keinesfalls schmückend, weshalb er weder die eine, noch die andere Anforderung erfüllt, die man an Mode stellen kann.

Um meine Phantasie, den Mann mit der Schlinge seines Schals an einem Stahlträger der Elbphilharmonie aufzuknüpfen, nicht in die Tat umzusetzen, flüchtete ich in die Waschräume und rückte vor dem Spiegel erst einmal mein Halstuch im Kragen des Hemdes zurecht. Denn das Foulard und der Krawattenschal sind die einzigen akzeptablen - weil dandyesken - Möglichkeiten, den nackten Hals schicklich zu bedecken. Beim Herausgehen sah ich, wie der Sommerschal immer wieder der Kaffeetasse seines Trägers gefährlich nah entgegengeweht wurde. Als ich mich wieder an unseren Tisch setzte, fiel dann mir plötzlich doch noch ein praktischer Nutzen für diese Modesünde ein. Ja, künftig sollte in Cafés zu jeder Tasse auch ein Sommerschal ausgegeben werden. Denn schließlich nimmt kaum etwas verschüttete Getränke besser auf, als ein dünnes Stück Baumwolle.


Dorian Gray:
- hat in Paris zu viel Geld ausgegeben
- findet, dass man für Mode nie zu viel Geld ausgeben kann
- wünscht sich zurück in die französische Hauptstadt